SGS

Bin ich auch Betroffener der strukturellen Gesamtscheiße? Manchmal würde ich das zumindest nicht bezweifeln.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/grosse-gefuehle-wir-leben-in-einer-neuen-barockzeit-dlf-kultur-5bab00b0-100.html

(automatic transcript)

Vor etwa 400 Jahren begann die Epoche des Barock. Es war eine Zeit der Gegensätze überbordende Lebensfreude auf der einen Seite, Angst vor Tod und Vergänglichkeit auf der anderen. Das bestimmende Ereignis war der 30-jährige Krieg. Die Bevölkerung litt große Not, ganze Regionen wurden verwüstet. Elend, Armut, Zerstörung. Das Ende schien nahe. Im Angesicht dieser Bedrohungen wuchs aber auch der Lebenshunger der Menschen und der Wunsch, jeden Moment intensiv wahrzunehmen. Der Autor und Journalist Steffen Greiner ist der Meinung, dass wir gerade eine Wiedergeburt des Barock erleben.

Vor einigen Jahren ließ ich mich in eine Klinik einweisen. Depression, Krämpfe in allen Gliedmaßen. Es war schön da vor der Stadt, zwischen Wald und See. Aber es gab auch den Druck einer harten Währung. Tränen. Wer, wann Welchen therapeutischen Durchbruch hatte, wurde von uns Patientinnen ganz selbstverständlich daran festgemacht, wie unkontrolliert, dammbruchartig das Weinen war, das regelmäßig durch die Gruppe schoss. Für uns sozial bunt zusammengewürfelte Schicksalsgenossinnen bedeuteten Tränen, Erfolg und Macht. Längst sind Tränen auch außerhalb der Klinik eine harte Währung. Ich will gar nicht in den Kammerchor des falschen Rationalismus einstimmen, der eine Hufeisentheorie der Gefühle beschwört. Aber es stimmt, dass extreme Gefühlslagen heute auf beiden Seiten des politischen Spektrums Handlungsmacht bedeuten. Es heißt ja oft, wir lebten in den neuen Zwanzigern, tanzten wieder auf dem Vulkan. Dabei leben wir eigentlich in einem neuen Barock. Memento Mori überschreibt sich quasi seit Jahren jede Nachrichtenseite. Und wer sich über die Wiederkehr der Zigarette bei der GenZ wundert, kann er noch mal in den Schulnotizen zu Carpe Diem nachschlagen. Größte Parallele aber das Ausleben extremer Gefühle. 300 Jahre nach dem Barock gehört es wieder zentral dazu in dieser neuen Barockzeit, in der man also selten ein bisschen niedergeschlagen ist, sondern konstant so müde. Selten ein verhuschtes Lächeln zeigt, aber stets zynisch laut auflacht, selten ein unangenehmes Ziehen im Bauch spürt, sondern immer große Wut. Es gibt jeden Grund, als Betroffene der strukturellen Gesamtscheiße gigantisch wütend zu sein. Wut ist ein wichtiger Motor und ein Produktiverer sicher als die Angst, die auf der anderen Seite des Spektrums dominiert. In echt kennen aber auch Menschen in großer Wut in ihrem Gefühlsleben mehr Farben und Texturen, als das Reden darüber zulässt. Denn gerade das offene öffentliche Sprechen über Gefühle bedeutet ihre Reduktion auf Schemen. Es deckt Schattierungen zu, die helfen würden, sie zu verstehen. Die Gefühle, über die geredet wird, müssen eine gewisse Minimal krassheit aufweisen, das Kleister, das revolutionäre Gehalt gelebter Emotionen gleich wieder zu. In Gefühlen liegt ein Potenzial, die Dominanz patriarchaler Rationalität aufzubrechen, aber eben auch das Potenzial, die rationalen Diskurse demokratischer Entscheidungsfindung durch das populistische Beschwören von Emotionen zu manipulieren. Daraus folgt nicht, dass Gefühle zu kontrollieren und zurückzuhalten sind, sondern dass wir sie alle besser kennen und verstehen lernen müssen und lernen müssen, so über sie zu reden, dass ihre Macht erhalten bleibt, sie aber auch einen Eigensinn gewinnen, der sie nicht völlig im politischen Raum aufgehen lässt. Das ist vielleicht auch Aufgabe gesamtgesellschaftlicher Bildungspolitik, zumindest solange Klasse race gender auch mitbestimmen, wie Emotionen erlebt, erkannt und angenommen werden. Auch diese Ressource muss schließlich gerecht verteilt werden. Frei Emotionen zeigen und kommunizieren zu können, bedeutet Emanzipation. Aber letzten Endes brauchen Emotionen auch die Freiheit, nicht selbst wieder Teil eines Machtsystems zu werden. Ein neuer demokratischer Barock. Wenn wir auf so etwas mentalitätsgeschichtlich zusteuern, muss die Hierarchisierung der Emotionen und derer, die sie zeigen, unterlaufen. Zugunsten der Freude an der oft banalen grauen Widersprüchlichkeit des alltäglichen Gefühlslebens. Sie weinte, aber sie nahm, heißt es, zynisch über die barocke Kaiserin Maria Theresia, die im Schauspielunterricht Emotionen auf Knopfdruck als politisches Druckmittel erlernte. Tränen können helfen, erfuhr ich in der Klinik. Ein relevanter Marker für Heilung sind sie nicht. Das gilt vermutlich auch hier draußen.